„Kultur ist …“
nicht nur ein polyglotter Sender, der Gedanken an Kunst, Theater oder Museum weckt und aus unserem Alltag, aus Wissenschaft und Gesellschaft (Stichwort ‚Leitkultur‘) nicht mehr wegzudenken ist. Kann es für diesen Bedeutungsreichtum nur EINE Definition geben? Die über 200 Kulturdefinitionen bei Hansen (1995) suggerieren dies jedenfalls nicht. Wie kommen wir aber an einen so facettenreichen Begriff heran? Wir beginnen mit dem Zweck, der unser Interesse motiviert, und schlagen drei mögliche Zugänge vor.
1. Wozu brauchen wir Kultur?
commons.wikimedia.org/wiki/File:%27Adam%27s_Creation_Sistine_Chapel_ceiling%27_by_Michelangelo_JBU33cut.jpg (Urheber: Jörg Bittner)
Zum Beispiel brauchen wir Kultur, um unser Zusammenleben als Gemeinschaft über Regeln und Konventionen zu ordnen (Goodenough 1964) oder um uns in der Auseinandersetzung mit dem Sinn des Lebens und der Unbestimmtheit unseres Todes nicht zu verlieren (‚Tod als Kulturgenerator‘, Assmann 2010) oder um unserem Leben in seinen vielfältigen Bereichen einen Sinn zu geben und diesen zu bewahren (Mudersbach 2002).
2. Wie können wir ‚Kultur‘ umfassend beschreiben?
Unterschiedliche Disziplinen fassen je nach dem sie interessierenden Erklärungswert den Begriff ‚Kultur‘ unterschiedlich eng bzw. weit. Wir schlagen für die gesamthafte Erfassung von Kultur in verschiedenen Lebensbereichen eine Beschreibung aus drei Perspektiven vor: (1) einer (atomistischen) Beschreibung, die am Einzelwort ansetzt, z.B. einer Kaffeetasse als Buchstaben ‚B‘ im Bild (Netz): ‚B‘ sehen wir beschränkt auf die Farbe: ‚B‘ ist rot. (2) Bei einer ganzheitlichen (holistischen) Beschreibung sehen wir, daß ‚B‘ im Zentrum verschiedener Strukturen steht und noch einen differenten, nicht zentralen Partner (Buchstabe ‚A‘ im Netz) hat, z.B. eine Tasse mit grünem Tee (3). Die dritte, relationale Perspektive, beschreibt die zwischen ‚A‘ und ‚B‘ bestehende Beziehung, z.B. eine Kaffee- oder Teetafel mit ihren Figuren in einer bestimmten Runde. Wir nennen dies die hol-atomistische Beschreibung, weil sie zwischen der atomistischen und holistischen Beschreibung vermittelt.
Mehrsprachige Anwendungen und Literatur dazu unter Mudersbach (PDF). Ein konkretes Beispiel dazu findet sich weiter unten.
Grafik von Heidrun Gerzymisch (translationconcepts.org)
3. Wie setzen wir Kultur um?
Die Frage nach der praktischen Anwendbarkeit, die Beschreibung der Handhabbarkeit (Operationalisierung) von Kultur lässt sich am Beispiel des Vergleichs und der Translation zeigen.
Jeder Vergleich setzt einen Vergleichsstandard (tertium comparationis) voraus, d.h. verglichen wird über ein übergeordnetes systematisches Gefüge, hier die Sprache in ihrem funktionalen Gebrauch. Würde man z.B. das Text-Bewertungsprofil von MIT.Qualität mit dem Bewertungsgprofil des Zürcher Partner-Teams vergleichen wollen, würde dies bedeuten, dass zunächst eine übergeordnete funktionale Struktur herauszuarbeiten ist, die zu(r) konkreten (Text)anwendung(en) in Beziehung zu setzen ist (zur Methodik vgl. Floros 2002). Diese funktionale übergeordnete Struktur würde dann als Vergleichsmaßstab (‚Kultursystem‘, tertium comparationis) zur Verfügung stehen. Texte in einer oder mehreren Sprachen und Kulturen zu vergleichen, hieße damit, zunächst entsprechende Vergleichsmaßstäbe zu erarbeiten.
Der Vergleich ist für die Translation (Übersetzen und Dolmetschen) Voraussetzung (siehe Zürcher Vorlesungen Translation: Textvergleich und Transfer 2017).
Ich kann die Zusammenhänge hier nur andeuten (vgl. dazu exemplarisch Gerzymisch/Arbogast/Mudersbach 1998) und bediene mich bei Eco, der die Unübersetzbarkeit von Kultur am Beispiel des Kaffeetrinkens unter Beweis stellen will. Er meint: In einem italienischen Roman heißt es, dass sich jemand einen Kaffee bestellt, ihn hinunterstürzt und dann die Bar verlässt. In einem US amerikanischen Roman sitzt jemand eine halbe Stunde über einem Kaffee und sinnt nach.
Eco schreibt, dass wörtliche Übersetzungen hier den Lesern kein Äquivalent bieten können, denn im ersten Fall handelt es sich um einen italienischen Kaffee in einer italienischen Bar, da sich ein amerikanischer Kaffee wegen seiner Temperatur und seiner Menge nicht hinunterstürzen lässt. Gleichsam sinnen die Italiener nicht eine halbe Stunde lang über etwas nach, das kaum einen Fingerhut groß ist. Ganz zu schweigen davon, dass in einer amerikanischen Bar nicht Kaffee getrunken wird.
Die Übersetzungsproblematik von Kultur ist so vielfältig, dass sie sich hier kaum systematisch behandeln lässt (vgl. Mudersbach 2002, Gerzymisch 2013, zuletzt 2018). Wie aktuell diese Problematik aber gerade heute ist, mag der jüngste Artikel aus dem Economist belegen.
Quellen:
Assmann, Jan (22010): Tod und Jenseits im Alten Ägypten. München: C.H.Beck.
Eco, Umberto (2002): Dire quasi la stessa cosa. Milano: Bompiani.
Floros, Georgios (2002): Kulturelle Konstellationen in Texten. Tübingen: Narr (Jahrbuch Übersetzen und Dolmetschen 3/2002).
Gerzymisch, Heidrun (Hrsg.) (2013): Translation als Sinngebung. Münster u.a.: Lit.Verlag.
Gerzymisch, Heidrun (2018): „Translation und Mehrsprachigkeit“. In: Giessen/Krause/Oster-Stierle/Raasch (Hrsg): Mehrsprachigkeit im Wissenschaftsdiskurs. Reihe Denkart Europa. Asko Europa-Stiftung. Nomos: Baden-Baden.
Gerzymisch-Arbogast, H./Mudersbach, K. (1998): Methoden des wissenschaftlichen Übersetzens. (UTB Uni-Taschenbücher 1990). Tübingen/Basel: Francke.
Goodenough, Ward (1964): „Cultural Anthropology and Linguistics“. In: Hymes, D. (Hrsg.): Language in Culture and Society. A Reader in Linguistics and Anthropology. New York. Harper and Row. 36-40.
Hansen, Klaus P. (1995): Kultur und Kulturwissenschaft. Tübingen/Basel: Francke (UTB 1846).
Mudersbach, Klaus (1983): „Hol-Atomismus als Vereinheitlichung von Holismus und Atomismus“. In: Weingartner, Paul & Czermak, Joseph (Hrsg.): Epistemology and Philosophy of Science. Proceedings of the 7th International Wittgenstein Symposium. Wien: Hölder-Pichler-Tempsky. 347-349.
Mudersbach, Klaus (1991): „Erschließung historischer Texte mit Hilfe linguistischer Methoden“. In: Best, Heinrich & Thome, Helmut (Hrsg.): Neue Methoden der Analyse historischer Daten. St. Katharinen: Scripta Mercaturae (= Historisch-sozialwissenschaftliche Forschungen 23). 318-361.
Mudersbach, Klaus (2002): „Kultur braucht Übersetzung. Übersetzung braucht Kultur“. (Modell und Methode). In: Gisela Thome, Claudia Giehl, Heidrun Gerzymisch-Arbogast: Kultur und Übersetzung. Methodologische Probleme des Kulturtransfers. Jahrbuch Übersetzen und Dolmetschen 2, Tübingen: Narr. 169-225.
Internetquellen
Gerzymisch, Heidrun (2017): Zürcher Vorlesungen Translation: Textvergleich und Transfer (PDF)
How language problems bedevil the response to crises (The Economist, 15.11.2018)